Es ist Freitag, der 24. Juni 2016, und das Undenkbare ist geschehen: Großbritannien hat entschieden die Europäische Union zu verlassen.

Direkte Demokratie ist ein wunderbares Instrument, um Klarheit zu bringen. Sie erlaubt jedem einzelnen Wähler – unabhängig von Alter, Religion, sozialem Status, geografischer Position und Parteizugehörigkeit – seinen unumschränkten Willen auszudrücken.

Das EU Referendum im Vereinigten Königreich ging genau darumt: es hat seinen Bürgern die Hoheitsgewahlt zurückerteilt – mit weit reichenden Konsequenzen, und, wie ich glaube, schwerwiegenden Folgen für das Wahlsystem des Landes.

Der Effekt eines Referendum ist insbesondere da von grossem Effekt, wo Wahlen normalerweise von denen gewonnen werden, die zuerst die Schwelle mit der Mehrheit der Stimmen überschreiten. Dieses Wahlsystem is bekannt unter der Bezeichnung “First Past The Post (FPTP)”.

Die Vorteile werden wie folgt beschrieben: FPTP ist kosteneffizient, die Stimmen können schnell ausgezählt werden, es begünstigt ein Zwei-Parteien-System und damit ein Ein-Parteien-Regierungsbildung, was wiederum schnelle, geradlinige Entscheidungsfindung ermöglicht.

Die Nachteile sind offensichtlich: FPTP führt dazu, dass Teile der Wählerschaft nicht im Parlament repräsentiert werden, dass Wähler ihre Stimmen gegen den Kandidaten abgeben, den sie am wenigsten mögen, anstatt FÜR denjenigen, den sie favorisieren; zu regionaler Fehlrepräsentation, da bestimmte geografische Gebiete mit hoher Parteienkonzentration übervorteilt sind, zu Wahlkreisschiebungen, und so weiter… Kurz: FPTP verwandelt die Wahllandschaft in ein polarisiertes Schlachtfeld von Gewinnern und Verlierern.
Dies mag zu viktorianischen Zeiten funktioniert haben. Im 21. Jahrhundert jedoch ist eine Reform längst überfällig.
Ich lebe seit 2001 in Großbritannien – und meine Beobachtung ist, dass eine zunehmend vielfältige und multikulturelle britische Gesellschaft der Polarisierung entwachsen ist. Aus diesem Grund führt FPTP zu einer Verzerrung und Fehlrepräsentation in Westminster und Downing Street. Die letzten beiden parlamentarischen Wahlen zeigen, dass eine zunehmende Anzahl an Wählern sich stimmlos und entrechtet fühlt – und das aus gutem Grund.
Die Analyse der Wahl 2015 durch die Gesellschaft für Wahlrechtsreform (Electoral Reform Society) belegt diese eindeutig:

“Von den fast 31 Millionen Menschen die am 7. Mai teilgenahmen, halfen die Stimmen von 15,4 Millionen Wählern niemanden dabei, gewählt zu werden. (…) Von 650 gewählten Kandidaten bekamen 322 (49%) weniger als 50% der Stimmen. Dass weniger als die Hälfte der Wahlberechtigten sie unterstützt, ist ein ziemlich schwaches Mandat für die Hälfte des Unterhauses.“

Hier die Originalquelle: http://www.electoral-reform.org.uk/blog/nail-coffin#sthash.EIr0ht4J.dpuf

Die UK-weite Wahl für den Austritt aus der EU zeigt wie mager dieses Mandat tatsächlich ist – belegt durch die hohe Beteiligung am Referendum von 72,2% gegenüber einer durchschnittlichen Beiteiligung von 43% bei den Gemeindewahlen 2015.

Auch wenn es zahlreiche (begründete) Bedenken in Bezug auf den aktuellen Zustand der EU und ihrer Zukunft gibt, meiner Ansicht nach ist dieses Ergebnis auf vielfältige Weise ein Protest gegen eine zweidimensionale Regierung und ein Parlament, das nicht die vielfältige Wählerschaft Grossbritanniens repräsentiert.

Ich komme ursprünglich aus einer Region (Freistaat Bayern), die regelmäßig zentrale Fragen durch Volksabstimmungen entscheidet. Daher sage ich mit Respekt und Anerkennung: gut gemacht, liebe Briten, dass ihr euch Eure Souveränität zurückerobert habt.

Nun kommt es darauf an, besonnene Führungspersonen mit Integrität und Weitblick auszuwählen, die das Land in eine neue Zukunft und durch die Scheidung von der EU lenken können. Gleichzeitig wäre es vermutlich sinnvoll, erneut über ein proportionales Wahlsystem nachzudenken – für das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland.

Oder genau genommen nur für England. Nordirland führt vielleicht ein Referendum durch, um sich Irland anzuschließen. Schottland beschliesst vielleicht neues Referendum für einen Wiederbeitritt in die EU. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist alles möglich.

Was die EU betrifft, so hoffe ich, dass Grossbritanniens Entscheidung einen Prozess der Gewissensprüfung, Veränderung und Erneuerung anregen wird. Es steht außer Frage, dass die EU in einer Region mit einer langen Geschichte von Konflikten dauerhaft Frieden etabliert hat. Gleichermaßen ist es ohne Zweifel, dass sich wesentlich mehr Bürger in den anderen 27 Mitgliedsstaaten von den Entscheidungen in Brüssel, Straßburg u.a. abgekoppelt fühlen.

Direkte Demokratie ist ein wunderbares Instrument, um Klarheit zu bringen…

Judith