Der „Blindenbrunnen“ im Blindengarten, Rheinaue, Bonn, Deutschland, © Michael Sondermann/ Bundesstadt Bonn

Während meines wöchentlichen Chinesischunterrichts habe ich mich mit meinem Lehrer über das chinesische Sprichwort瞎子摸象 (xiā zǐ mō xiàng) unterhalten. Wörtlich übersetzt bedeutet es „Blinder, der einen Elefanten berührt“. Es führt zurück auf eine bekannte asiatische Volkssage über eine Gruppe von Blinden, die sich um einen Elefanten herum versammeln. Der erste Blinde hält an einem der Beine fest und sagt: „Ein Elefant sieht wie eine Säule aus.“ „Keineswegs“, sagt der Zweite, der ein Ohr berührt, „denn ein Elefant ist wie ein Fächer.“ „Ihr liegt beide falsch“, sagt der Blinde, dessen Hände sich auf dem Rüssel befinden: „Ein Elefant ähnelt ganz klar dem Ast eines Baumes.“ „Ihr seid doch alle blind,“ ruft der Blinde, der den Schwanz berührt: „Ein Elefant sieht so aus wie ein Seil“ … und so weiter, Sie können sich denken, worauf ich hinaus will. Jede Situation hat genauso viele Facetten wie Menschen, die an ihr beteiligt sind. Wahrheit ist Ansichtssache.

Das Bild des Elefanten und der Blinden ist in meine Überlegungen über die Vertrauensdiskussion in den Medien eingeflossen. Als Nachrichtensprecherin, Journalistin und Autorin habe ich mich in den letzten 16 Jahren stets darum bemüht, mich wahrheitsgemäß und mit Integrität zu äußern. Gründliche Recherche, das Überprüfen von Quellen und eine achtsame Ausdrucksweise sind mein täglich Brot. Deswegen beunruhigt mich die momentane Welle verfälschter Informationen in den Medien. Vor allem, weil viele Menschen diesen Nachrichten scheinbar äußerst leicht glauben und auch auf sie eingehen — so wie beim britischen Referendum und den US-Wahlen.

Um nun auf mein chinesisches Sprichwort zurückzukommen — wenn jede Geschichte genauso viele Perspektiven wie beteiligte Personen hat, dann bietet sogar eine Lüge oder eine falsche Geschichte einen Einblick in das Thema. Und sei es nur ein Einblick in die Beweggründe, die jemanden dazu veranlasst haben, sich eine solche Lüge überhaupt auszudenken.

Im gleichen Sinne ist verantwortungsbewusster Journalismus nur eine der Facetten des Themas der Wahrheit und der falschen Nachrichten. Ich habe beobachtet, daß der Wahrheitswert von verantwortungsvoll gemeldeten Nachrichten von den folgenden drei Phänomenen abgeschwächt wird:

  • Eine vermeintliche Nachrichtenmeldung kann getarnte Unterhaltung oder PR sein. „Clickbait“ mit emotional aufgeladenen Schlagzeilen und Bildern lenkt das Publikum auf Internetseiten, die Inhalte und Dienstleistungen verkaufen.
  • Das Internet der Dinge und die ständige Vernetzung durch intelligente Geräte scheinen kulturelle Barrieren und Tabus aufzulösen. Kommunikatives Verhalten, das von Gesicht zu Gesicht vollkommen unakzeptabel wäre, scheint in der virtuellen Realität zu florieren und wird normalisiert, indem es durch soziale Medien verbreitet wird.
  • Beides fließt in die alte politische Strategie der „kontrollierten Geschichte“ ein und erweitert diese noch, indem durch empörende Aussagen und „alternative Fakten“ Zweifel gesät und so andere Berichterstattungen unterminiert werden. Ein gutes Beispiel für diese Strategie und deren negative Auswirkung auf die Wahrnehmung von Leuten ist „Das Haus der Lady Alquist“, ein Film mit Ingrid Bergmann aus dem Jahre 1944, basierend auf dem acht Jahre früher erschienenen Theaterstück „Gaslicht“ von Patrick Hamilton, welches den englischen Begriff “gaslighting” (dt. etwa „emotionale Manipulation“) geprägt hat.

Wie können wir nun den unaufhaltsamen Strom der Informationen navigieren und aus einer Geschichte Wert ableiten? Wie können wir als Empfänger von Nachrichten verantwortungsbewusst wählen, was wir aufnehmen (so wie jeder von uns dafür verantwortlich ist, sich gesund zu ernähren?)

Die folgenden Vorschläge stellen meinen persönlichen Ansatz dar.

Obwohl sie aufeinander aufbauen, sind sie auch interaktiv. Natürlich ist die Liste keineswegs vollständig.

1. Stehen Sie hinter der niedrigen Mauer: Beobachten ohne Verurteilung

Wir leben in einem Zeitalter des ständigen Wettbewerbs und der Verurteilung aber man kann diesem bewusst ausweichen. Wenn Sie die Nachrichten sehen, lesen oder hören—sei dies auf sozialen Medien, im Fernsehen oder durch ein Familienmitglied—so stellen Sie sich vor, Sie stünden hinter einer niedrigen Mauer und erzeugen Sie so ein gewisses Gefühl von Abstand. Verschaffen Sie sich die Zeit und den Freiraum, den sie benötigen, um darüber nachzudenken, was Ihnen vorgelegt wird. Als Beobachter bleiben Sie in Kontrolle und können sich aussuchen, ob und wann Sie reagieren möchten, anstatt provoziert zu werden.

2. Resonanz: Lesen Sie zwischen den Zeilen

Resonanz bedeutet, darauf einzugehen, was zwischen den Zeilen steht, auf die Absicht hinter der Geschichte. Sagen wir mal, Sie lesen einen Artikel über Flüchtlinge. Wie kommt er bei Ihnen an? Welche Gefühle kommen auf? Weckt der Artikel in Ihnen Angst oder Mitgefühl? Ist er aufmunternd oder erzeugt er ein Schweregefühl? Oder Sie sehen gerade eine Nachrichtensendung über einen Wahlkampf mit verschiedenen Kandidaten. Wie porträtiert die Sendung die einzelnen Kandidaten? Zeigt es jeden Kandidaten in einem ähnlichen, neutralen Licht oder wird einer der Kandidaten bevorzugt behandelt? Ihre Resonanz wird Ihnen viel über Ihre eigenen Provokationsauslöser beibringen und Ihnen dabei helfen, die Wahrheit zu erkennen.

3. Urteilsvermögen: Richten Sie Ihre Antennen fein aus

Urteilsvermögen ist die Fähigkeit, angemessen zu urteilen, indem man sich beibringt, Nuancen, Eigenschaften und Muster zu erkennen. Urteilsvermögen muss geübt und verfeinert werden, indem man beobachtet, auf sein Bauchgefühl hört und Recherche betreibt. Je mehr Sie daran arbeiten, desto feiner können Sie Ihre Urteils-Antennen ausrichten. Mit der Zeit treten Muster hervor, die fast wie eine Sprache erscheinen. Die Muster können mit bestimmten Quellen, Inhalten oder Anlässen übereinstimmen und die Qualität, Authentizität und Agenda eines Berichts beweisen. Hier zwei Beispiele: Nachrichten einer US-Quelle haben einen anderen Stil als Nachrichten für ein europäisches Publikum. Wirtschaftsdaten werden oftmals anders verpackt—je nachdem, welche politische Agenda der Autor besitzt.

4. Vertrauen Sie Ihrem Bauchgefühl: Dann machen Sie Ihre Hausaufgaben

Wenn etwas falsch klingt, ist es das auch meistens. Trotzdem ist in unserer seltsamen und wundervollen Welt das Unmögliche möglich geworden (siehe Brexit und die US-Wahlen). Dies bedeutet nicht, daß Ihr innewohnendes Gefühl für Wahrheit danebenliegt. Es bedeutet lediglich, daß es nötig ist, einige Hausaufgaben zu erledigen. Wenn Sie das Thema also interessiert, verifizieren Sie die Behauptungen des Beitrags, den Sie gelesen oder gehört haben. Als Journalistin unter dem Dach einer globalen Nachrichtenorganisation wurde mir stets erzählt, daß eine Sensationsmeldung immer durch drei glaubhafte und unabhängige Quellen verifiziert werden muss. Dieser Ansatz funktioniert bei mir noch immer.

5. Hausaufgaben: Rückverfolgung von Daten

Um die Behauptungen eines Artikels zu verifizieren, können Sie die vorliegenden Daten und Informationen wie Links, Namen, Ziffern und Orte zu ihrem Ursprung zurückverfolgen. Wo sonst erscheinen diese Daten im Netz? Welche Quellen haben sie veröffentlich und wer war dafür zuständig, die Informationen zusammenzustellen? Wie neutral und glaubhaft sind sie? Wie verifizierbar sind die Informationen? Wie sind die langzeitigen Erfahrungen mit diesen Quellen und ihren Informationen? Wirtschaftsdaten der europäischen Zentralbank werden zum Beispiel als sehr vertrauenswürdig angesehen. Ihre Datenerfassung ist transparent und Ergebnisse werden regelmäßig veröffentlicht und klar vorzeitig angekündigt.

6: Suchen Sie Gleichgewicht: Wahrheit hat viele Seiten

So wie die Erzählung des Elefanten und der Blinden hat jede einzelne Geschichte so viele Facetten wie beteiligte Personen. Diese sind nicht nur die Protangonisten der Geschichten, sondern auch Autor, Lektor, Leser, etc. Berichterstattung mit Integrität zeigt mindestens zwei, wenn nicht mehr, Seiten der Geschichte und lässt Zugehörige sich dazu äußern. Falls eine Äußerung ablehnt wird, erwähnt eine vernünftige Publikation dies ebenfalls. Artikel, die nur die einzelne Meinung eines einzelnen Menschen thematisieren sind ganz klar Stellungsnahmen, die zum Dialog einladen sollen und nicht dazu da sind zu informieren.

7. Ändern Sie Ihre Quellen: Abwechslung bereichert

Wenn man andauernd zu der selben Quelle zurückkehrt, um tägliche Informationen zu suchen, erhält man ganz gewiss nur eine Perspektive, ganz so wie einer der Blinden, der nur einen Teil des Elefanten berührt. Um ein besseres Bild der Weltereignisse zu erhalten, empfehle ich Ihnen dringend, mehrere Quellen gleichzeitig aufzusuchen, ganz besonders bei meinungsspaltenden Themen. Ein gutes Beispiel ist die kürzliche Entscheidung der US-Regierung, ein vorrübergehendes Reiseverbot für Menschen aus bestimmten Ländern einzuführen. Die folgenden Proteste, über die die meisten Medienkanäle berichteten, schienen die Meinung der Mehrheit zu reflektieren. Doch nach einigen Tagen zeigten Berichte und Umfragen, daß ein überraschend großer Teil der US-Bevölkerung dem Verbot zustimmte und sich dadurch sicherer fühlte.

Doch was bedeutet dies alles für die Zukunft des Journalismus und der Medien?

Im Jahre 1841 bezeichnete Thomas Carlyle die öffentliche Presse als die „vierte Macht“ und befand sie für wichtiger als die anderen drei Sparten des Parlaments. Meiner Meinung nach ist diese Bemerkung so stichhaltig wie nie zuvor. Die Presse erstellt eine Rückkopplungsschleife zwischen Regierung und Bürgern. Sie informiert und schafft Transparenz. Sie stimuliert Diskussionen und Meinungsaustausch. Sie spricht vor den Mächtigen die Wahrheit aus. In unserer immer komplexeren globalen Landschaft brauchen wir den Journalismus mehr denn je, um alle Aspekte des Elefanten zu sehen.

Und Journalismus mit Integrität soll es sein. Lasst uns die Intentionen hinter unseren Aussagen immer klar aussprechen. Soll informiert, unterhalten oder eine Meinung vertreten werden? Und wir müssen mit unseren Worten achtsam sein. Worte tragen Kraft. Worte schaffen Fenster oder Mauern. Deswegen stimme ich meiner Kollegin Lara Satrakian voll und ganz zu, die “einen hippokratischen Eid für die Nachrichtenindustrie fordert: das Versprechen, kein Unheil anzurichten”.

Auf daß wir in unseren Ausdrucksweisen immer achtsam und offen für neue Perspektiven sein mögen.

Judith Bogner, 24. Februar 2017